Ich wollte ihn schon lange auf ein Stündchen treffen. Seit ich ihn zum
ersten Mal in seinem Werkraum traf, umgeben von Staub und versunken in Opernmusik. Ich hatte gerade den Bildhauer Bertram Gante besucht, der eine große marode Halle auf einem
Hinterhof in Rothenburgsort mit ihm teilt.
Heute war es so weit. Als ich auf den Hof einbiege, winkt er mir schon zu. Gerade schraubt
er an seinem Wagen herum.
Geboren am 27.11.1965 in Kroatien. Einzelkind. Vater Künstler und Psychopath. Früh übt sich
Paule im steten Bemühen darum, zu gefallen, und ist doch von der Sehnsucht getrieben, auszubrechen. Als Kind liebt er Science Fiction-Comics und bastelt mit ungebrochenem Enthusiasmus
und kindlicher Fantasie Raumschiffe aus Pappe. Als seine Sammlung zwanzig Stück umfasst, soll er die auf Anraten des Vaters abfotografieren. „Jetzt hast du deine Sachen auf Fotos – und wir haben
wieder Platz!“ sagt er, bevor er im Nu die Raumschiffe seines Sohnes zerstört.
Paule macht sein Abitur und studiert Kunst / Malerei in Zagreb. Irgendwann in dieser Zeit
erkrankt sein Vater. Diagnose: Gehirntumor! Er unterzieht sich einer OP und realisiert danach, was schleichend mit ihm passieren wird – doch dem entzieht er sich und beginnt Selbsttötung durch
einen Schuss in den Kopf. Gemeinsam mit der Mutter wischt Paule das Gehirn des
Vaters von der Tapete.
1991 bricht der Kroatienkrieg aus, „die psychische Demontage der Welt. Es habe diesen
perversen Reiz gehabt, was der Krieg von nun an mit den Menschen machte, denen man vertraut gewesen ist. Aus netten Nachbarn wurden skrupellose Mörder, oft unfreiwillig, doch nicht selten auch
getrieben von niederen Motiven.“ Als der Krieg sich dem Ende näher, realisiert er, was er draus gelernt hat: „Nichts! Absurdität! Die Menschen wirkten wie eingefroren, die Zeit fast zeigerlos.“
1994 haut er ab. Sein Ziel sind die Staaten, doch landet er in Amsterdam. Später folgt er
einer Einladung von Freunden aus Düsseldorf, wo er sich vier Jahre durch Gärtnerei und Schlachterei über Wasser hält. Er leidet unter Depressionen und stellt auf einmal seine Kunst infrage.
Er ahnt, dass diese keine Lösung ist und begibt sich in psychische Behandlung. „Demontage des Weltbildes“..... doch immerhin kommen ihm jetzt die Vorteile seiner Handwerke zugute:
Ausdauer, Contemplation, Geduld und Struktur.
Ein Industriedesigner, dem er in Düsseldorf begegnet, holt ihn schließlich für gemeinsame
Projekte nach Hamburg. Endlich findet er zurück zur Kunst, doch noch fließt Geld aus anderen Töpfen: durch Bausanierungen (Stuck; Fresken). Seine Auftraggeber – bekannte Größen der Stadt.
2002 wird seine erste Tochter geboren, 2008 folgt sein Sohn. „Vielleicht bin ich auch ein
Despot und nicht beziehungstauglich“ versucht er seine (privaten) Trennungen zu erklären. Seine Kinder aber sieht er beinahe täglich, sagt für sie selbst wichtige (Geschäfts)Termine ab. Er will
der Vater sein, den er als Junge so vermisst.
Struktur ist auch der Name seiner Tagesabläufe. 16h-2h nachts reinigt er kontaminierte
Labore, die spezialisiert sind auf Chemotherapien.
Mich hält es nicht mehr still auf meinem Stuhl. Ich muss herum gehen, seine Werke sollen
mich berühren, mich fassen, mich fesseln, mich beseelen. Und das tun sie - heute wie damals. Und sie provozieren Fragen in mir.... und sie versetzen mich in Erstaunen, und sie schubsen mich in
eine Welt, in der nur Geist und Illusionen existieren. Ich trete die knarrenden
Stufen der Empore wieder herab, auch wenn ich gern da oben noch mit ihm ein wenig länger gesessen, eingegraben und verbuddelt unter Knochen, Geweihen, Styroporkugeln, eingetaucht
in Bachs Oratorien, so laut, als säßen wir inmitten des Orchesters.
„Hier zu sein, ist meine Meditation. Jeden Tag muss ich hier sein, denke dabei nicht ans
Geld und nicht daran, wie meine Kunst zum Kunden kommen könnte. Die Arbeit ist mein Monolog mit allen Hinterlassenschaften und Erinnerungen. Hier unterstehst du niemand – ein Vorteil, wenn man
sich nie blicken lässt und kaum einer dich sieht.“
Etwas in mir treibt mich an, dass ich den Zustand für ihn ändern will. Ich
schleiche herum, verrenke mir den Hals, mache mich klein, bücke und strecke mich, fasse an.... Alice würde mich um dieses Wunderland beneiden. Als schwebten um mich herum Atome und Molekyle,
Krebs- und Gehirnzellen..... alles was hier ist, ist seine Prophylaxe gegen neue Depressionen. Und dann erzählt er mir ganz offen, dass sein Therapeut ihn mal fragte, womit wohl die Kugeln
gefüllt seien. Kugeln, in denen Geweihe wie Fühler stecken, die nach etwas greifen wollen, doch gleichzeitig wie Waffen zur Abwehr wirken. "Was in den Kugeln ist.....?" Er sucht nicht mehr nach
einer Antwort.
Überhaupt gibt es hier Werke, die so unendlich erscheinen, weil sie kein Ende finden. Nur
der räumliche Spielraum gibt ihm Grenzen. „Fraktale Evolutionen“ betitelt er manches Schaffen, das seit über drei Jahren im Staub ertrinkt und auf Vollendung wartet, die es scheinbar nicht geben
kann. Warum er Bach und barocke Klassik so liebe? „Ich spüre Bachs Überzeugung.
Der Geist herrscht über die Materie. Bachs Musik ist wie eine innere Rechtfertigung, ein geschlossenes Universum - im Gegensatz zu Wagner.“
Er ist so voller Freundlichkeit, dieser Kroate, dieses Genie, der für mich auch einen
schönen, fast atmosphärischen Wahnsinn in sich trägt. Darauf zu kommen, dass man Schaufensterpuppen einen Hirschkopf überstülpt oder Papier in Chemikalien tunkt, damit sie auf der Leinwand
ein Bild ergeben, das man kaum besser in Öl hinbekäme, das untermauert meine liebevoll gemeinte Wertung. Ich mag das! Und das verbindet mich mit ihm, das Verständnis und das Wissen um das Erleben, mit einem
„verrückten“ Vater ein Stück Lebensweg gegangen zu sein.
„Ich hab' noch so viel vor mit mir!“ schwärmt er. Verdammt, klingt das gut! Doch ich ahne,
was alles auch nicht passieren wird, wenn seine Kunst die Enge dieser eigentlichen Geräumigkeit nicht verlassen wird, um endlich dort zu hängen, wo sie hingehört. Zu Menschen, die einen Zugang zu
abstrakter Kunst haben. Zu Außergewöhnlichem, fernab von der Stange.
Ich will gerade meine Sachen packen, da setzt er noch mal an und zieht eine Schleife zur
Quantenphysik, Bohr, Heisenberg, Kopenhagener Deutung - Bruchstücke seines späteren Studiums. Ich weiß, ich weiß, ohne den Geist kommt das Universum gar nicht erst zustande...
Als ich gehe, sage ich ihm, dass ich eine Kugel unter allen entdeckte, die meine
Lieblingskugel sei. „Du kommst wieder und zeigst sie mir, und dann....“ sagt er und öffnet mir das große Tor zum Hof. Ich bin noch keine hundert Meter auf der Straße, als ich in Gedanken schon bestimmte Hotels der Stadt im
Kopf habe, an deren Wänden ich seine Kunst sehe. Doch es braucht Mut, zu zeigen, was Bewunderung und Verwunderung zugleich auslösen könnte. Mal schauen, was ich tun kann.....
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